Der bayerische Streit ums Gras


Seit einem Jahr ist Cannabis auf Rezept für Kranke legal – doch ein immer größer werdendes Bündnis aus allen öffentlichen Bereichen fordert eine gänzliche Legalisierung. Selbst im restriktiven Bayern.

Veröffentlicht: Welt, Montag, 12. März 2018

Mark Schmidt* verkauft Cannabis. Doch „Dealer“ nennt er sich nicht. Weil die Bezeichnung so kriminell klingt. Er ist Anfang 30, sieht wie ein Surfer aus: lange blonde Haare, Bart, Chucks. Die Leute, die sein Gras kaufen, nennt er auch nicht Kunden, sondern Freunde. Sie kommen zu ihm in seine Wohnung im Münchner Westen. Sie geben ihm 200 Euro, er steckt ihnen eine Tüte zu. Mark Schmidt sieht darin nichts Verwerfliches, eine Straftat ist es trotzdem.

Schmidt sitzt in einem Café und trinkt Weißbier. 3000 Euro Umsatz mache er im Monat, ein Drittel bleibe als Gewinn. Geht es nach Lukas Köhler, dürfte es dieses Geschäftsmodell gar nicht geben. Der Münchner Bundestagsabgeordnete (FDP) fordert eine Legalisierung von Cannabis. „Mündige Bürger“, sagt der Politiker, „können selbst entscheiden, was sie konsumieren.“

Seit genau einem Jahr können Patienten Cannabis mit einem Rezept von der Apotheke bekommen, zum Beispiel wenn sie starke Schmerzen haben. Doch Lukas Köhler geht das nicht weit genug. Er will, dass alle Menschen über 18 – ohne medizinischen Grund – Gras in Apotheken oder lizenzierten Shops kaufen können. Auch der Münchner Abgeordnete Dieter Janecek von den Grünen spricht sich für eine Freigabe von Cannabis aus. Den Streit ums Gras gibt es seit Jahren. Neu ist, dass immer mehr Stimmen selbst aus dem konservativen und in Sachen Drogen restriktiven Bayern immer selbstbewusster eine Legalisierung fordern.

FDP-Mann Köhler glaubt, die „Verbotspolitik“ der Regierung habe versagt. Wer kiffen will, komme irgendwie an den Stoff – auch Minderjährige. Etwa sieben Prozent der Jugendlichen unter 18 geben in Umfragen zu, im vergangenen Jahr mindestens einmal Cannabis konsumiert zu haben. Insgesamt rauchen in Deutschland zwischen drei und vier Millionen Menschen Gras. „Ein Dealer lässt sich keinen Ausweis zeigen“, sagt Köhler. Auch eine Überprüfung der Qualität der Ware gebe es nicht.

In lizenzierten Geschäften könnte das anders sein, so der FDPler. Außerdem würden Polizei und Justiz Ressourcen sparen, die sie heute auf die Verfolgung von Cannabiskonsumenten und -händlern verwenden. „Sie könnten sich um die wirklichen Kriminellen in unserer Gesellschaft kümmern.“ Auch der Staat würde profitieren: Allein in München könnte er etwa 40,7 Millionen Euro Steuern jährlich verdienen, ergab eine Studie des Cannabis-Produzenten Seedo.

Einstiegsdroge, die Lust auf Härteres macht?

Die CSU sieht das erwartungsgemäß anders. Die Drogenbeauftragte der Staatsregierung, Marlene Mortler (CSU), sagt WELT, sie werde nicht tatenlos dabei zuschauen, „wie Jugendliche im wahrsten Sinne des Wortes ihre Zukunftsperspektiven verkiffen“.

Auch Markus Karpfinger, der Chef des Rauschgiftdezernats der Münchner Polizei, findet: Die Debatte rund um die Legalisierung der Droge gehe in die völlig falsche Richtung. „Gerade in jungen Jahren können Cannabis-Konsumenten psychische Störungen entwickeln.“ Der Jugendschutz funktioniere ja schon beim Alkohol nicht.

Für Karpfinger ist Haschisch eine Einstiegsdroge, die Lust mache, Härteres auszuprobieren. In München habe deshalb die Verfolgung von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz eine hohe Priorität – vor allem, was die Dealer betrifft: Etwa 630 Fälle von Rauschgifthandel wurden in München 2016 zur Anzeige gebracht.

Dealer Mark Schmidt war nicht darunter. Er sei bisher erst einmal erwischt worden, musste Sozialstunden an einer Schule leisten. „Das war eigentlich keine Strafe für mich“, sagt er: „Das hat Spaß gemacht.“ An Minderjährige würde er kein Gras verkaufen. Seine Kunden seien alle Akademiker, Künstler, Lehrer, Journalisten. Ein schlechtes Gewissen, dass er ihnen Drogen verkauft, hat Schmidt nicht. Sein Gras sei von der Qualität her genauso gut wie das aus der Apotheke. Er beziehe es direkt aus den Niederlanden.

Völlig ohne gesundheitliche Risiken ist Gras nicht. Wissenschaftlich ist erwiesen, dass Cannabis-Konsumenten ein höheres Risiko haben, an Angststörungen und Depressionen zu leiden. Auch die Gefahr, eine Psychose zu bekommen, kann zunehmen. Vieles ist allerdings noch unklar – etwa, wie sich eine Abhängigkeit entwickelt. Auch zur Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabis-Arzneimitteln können keine Aussagen gemacht werden. Zu diesem Ergebnis kommt Ärztin Eva Hoch vom Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in einer Studie, die sie für das Bundesgesundheitsministerium verfasst hat.

Stefan Heinze* hält nichts von solchen Forschungen. Denn er ist – ganz egal, was Wissenschaftler sagen – von der positiven Wirkung von Cannabis überzeugt. Weil er es am eigenen Körper erlebt hat, wie er behauptet. Heinze bekommt Gras per Rezept. Er ist Mitte 40, hat seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Heinze sitzt in seinem Wohnzimmer in einem Vorort von München, an der Wand hängen Bob-Marley-Poster. Er zündet sich einen Joint an. „Eine Zeit lang habe ich mir gleich morgens an der Tanke eine Flasche Wodka gekauft, um überhaupt durch den Tag zu kommen.“

Nach einer Entgiftung fiel es ihm schwer, trocken zu bleiben. Auf jeder Party tranken alle seine Freunde Bier. Er musste zuschauen. Als der Druck zu groß geworden sei, habe er sich einen Joint angezündet. „Ich rauche, um Schlimmeres zu vermeiden – um nicht wieder rückfällig zu werden.“ Stefan Heinze verkauft Elektroteile, hat Kinder und eine Frau, die er ernähren muss. Als Alkoholiker habe er das nicht hinbekommen, sei noch dazu aggressiv gewesen. Jetzt laufe sein Leben gut.

Wer Cannabis als Medizin braucht, hat kaum eine Chance

Obwohl er ein Rezept hat, kauft Heinze sein Gras nicht in der Apotheke, sondern von einem Dealer. Denn die Krankenkasse übernimmt bei ihm die Kosten nicht. Und in der Apotheke kostet ein Gramm etwa 25 Euro, mindestens doppelt so viel wie auf dem Schwarzmarkt. Stefan Heinze versteht nicht, warum die Gesellschaft akzeptiert, wenn Jugendliche mit Bierflaschen durch die Fußgängerzone ziehen, aber nicht, wenn sie im Park sitzen und einen Joint rauchen.

„Cannabis ist eine Droge und sollte nicht verharmlost werden“, sagt Katrin Bahr, die in der Geschäftsführung von Condrobs arbeitet, einer Organisation, die sich in Bayern um suchtkranke Menschen kümmert. Trotzdem meint sie: Dass Cannabis illegal ist, halte gerade junge Menschen nicht von dem Konsum ab. Es verhindere bloß, dass sie Hilfsangebote in Anspruch nähmen. Sie habe erlebt, dass junge Kiffer ihren Ausbildungsplatz verlieren – nicht weil sie nicht mehr aus dem Bett kamen, sondern weil sie eine Strafe ableisten mussten. Bahr ist davon überzeugt, dass der Staat bessere Präventionsarbeit leisten könne, wäre Cannabis legal.

Dealer Mark Schmidt hat sein Weißbier ausgetrunken. Angst um seinen Verdienst habe er nicht, auch wenn eines Tages Cannabis legalisiert würde. Aber es gäbe auch ihm ein besseres Gefühl. Schmidt will jetzt nach Hause, sich eine Gesichtsmaske aus Heilerde auflegen, einen Joint rauchen, seiner Freundin etwas kochen. Sie ist Patentanwältin und muss jeden Morgen um sieben Uhr zur Arbeit.

(*Name von der Redaktion geändert)